Putin hat alle Brücken längst verbrannt

Der Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow ist einer der bekanntesten Kritiker des Kreml - und lebt aus bekannten und verständlichen Gründen vorsichtshalber im Exil. Was sagt er zu zwingenden und drängenden Fragen der Jetztzeit in Bezug auf Putin? Putins Plan?: Die EU und Merkel schwächen, gern auch mit mehr Flüchtlingen - Ausdehnung seiner Macht über Europa hinaus.

Ein Interview aus „Die Welt“ v. 08.03.2016

Die Welt: Herr Kasparow, wie würden Sie sich derzeit definieren? Sind Sie Mitglied der Opposition in Russland? Dissident? Exilant?

Garri Kasparow: Im Exil, ja. Gegen die Bezeichnung "Politiker" habe ich mich immer gesträubt. Das führt in die Irre, denn ein Politiker ist jemand, der Wahlkampf macht, öffentlich debattiert oder Spenden eintreibt. In Putins Russland ist es aber so wie in jeder Diktatur: Da kämpft man nicht, um Wahlen zu gewinnen, sondern darum, Wahlen abhalten zu können. Es ist also mehr ein Kampf um Menschenrechte, das ist natürlich eine politische Aktivität, aber ich wäre zurückhaltend, das "Politik" zu nennen, denn das könnte in der freien Welt missverstanden werden. Ich bin ein Aktivist und vielleicht in der Opposition, aber selbst das ist etwas vage – denn was heißt in Russland Opposition?

Die Welt: Was heißt es denn?

Kasparow: Die meisten Leute, mit denen ich in Russland zusammengearbeitet habe, sind entweder im Exil, im Gefängnis, oder es ist noch schlimmer – wie bei Boris Nemzow.

Die Welt: Er wurde vor dem Kreml ermordet.

Kasparow: Opposition in Putins Russland ist eben etwas anderes als in Deutschland oder Frankreich. Wir sind nicht in dem Sinne in der Opposition, dass wir davon ausgehen, die nächsten Wahlen zu gewinnen. Als "Oppositioneller" hat man sehr begrenzte Möglichkeiten. Man kann so tun, als sei man in der Opposition, und die Regeln akzeptieren, die der Kreml vorgibt. Man kann versuchen, sich mit seiner Gruppe im System zu arrangieren. Oder man entscheidet sich, dagegen zu sein. Und dann kann alles passieren. Auch das Schlimmste. Es ist also eine Art Opposition, aber zugleich etwas anderes.

Die Welt: Also eine Art privilegiertes Dissidententum? Wie zu Sowjetzeiten Andrej Sacharow, aber im Ausland und mit besserem Zugang zu internationalen Medien?

Kasparow: Na ja, aber was ist das für eine Öffentlichkeit. Es ist halt das Internet, aber kein Zugang zu den Massenmedien. Man kann die Öffentlichkeit eben nicht auf dem Fernsehkanal 1, 2 oder 3 erreichen. Politisch ist es heute besser als in der Sowjetunion in den Achtzigern, aber es ist viel schlechter als unter Gorbatschow. Denn damals war das Regime schon in der Endphase, und es gab eine öffentliche Debatte.

Die Welt: Gibt es die heute überhaupt nicht mehr?

Kasparow: Heute hat Russland zwar technisch gesehen eine demokratische Verfassung, aber manchmal geht das System mit der Opposition sogar noch etwas brutaler vor als die Kommunisten. Sie behaupten, sie stellten sich der Diskussion – aber ihr härtester Kritiker war Boris Nemzow. Und Nemzow oder Alex Nawalny – das ist nur die Spitze des Eisbergs. Auf lokaler Ebene geschieht das ja überall. Jeder, der sich gegen die Autoritäten wendet, wird unterdrückt. Es ist wie in einem Mafiasystem. Es gibt große und kleine Bosse, und die verteidigen alle ihr Gebiet. Es ist sogar gefährlicher, in Sibirien etwas gegen einen korrupten Provinzbeamten zu sagen. Denn dort wird niemand etwas davon erfahren, selbst in Zeiten des Internets.

Die Welt: Wie würden Sie das System Putin charakterisieren?

Kasparow: Dieses Regime befindet sich gerade im letzten Stadium einer Diktatur: Das ist der Angriff auf einen äußeren Gegner. Wenn man im Inland keine Feinde und keine Propagandaideen mehr hat, dann braucht man eine stärkere Droge, um die Bevölkerung in diesem Zombie-Zustand zu halten. Die Krim, die Ukraine, Syrien – das folgt diesem Muster.

Die Welt: Wie funktioniert diese Propaganda?

Kasparow: Ich setze mich dieser Erfahrung nicht allzu oft aus, um meine geistige Gesundheit zu schützen. Aber meine Mutter, die lebt ja noch da. Sie selbst ist zwar immun, aber sie erzählt mir, dass die Propaganda Wirkung zeigt. Es ist anders als in der Sowjetunion – sie wurde in der Stalin-Zeit geboren –, sie ist fast 79 und hat alle erlebt, Stalin, Chruschtschow, Breschnew, Andropow, Gorbatschow, Jelzin. In der Sowjetzeit hat man versucht, den Leuten etwas über die strahlende Zukunft zu erzählen, man wusste, dass das eine Illusion war, aber die Idee war: Wir strengen uns heute an, und in 20 oder 30 Jahren gibt es Friede, Wohlstand und Brüderlichkeit. Putins Propaganda spricht überhaupt nicht von der Zukunft. Es gibt nur Dunkelheit und Tod. Es gibt nur Feinde und Konfrontation. Sie ist sehr intensiv, aber ausschließlich negativ.

Die Welt: Aber sie scheint viel moderner und professioneller.

Kasparow: Das stimmt. Die Werkzeuge, die sie nutzen, sind deutlich effektiver. Man muss anerkennen, dass sie eine sehr gute Propagandamaschine gebaut haben. Sie teilen die Propaganda in unterschiedliche Bereiche. Die Sowjetunion hatte nur eine Geschichte, ein Einheitsgericht für alle. Putins Propaganda ist differenzierter. Es gibt die großflächige Mainstreampropaganda, die vielleicht 80 Prozent der Bevölkerung trifft. Und dann gibt es so eine Art Boutiquenbereich. Der speziell auf die Moskauer Mittelschicht zugeschnitten ist. Das ist viel raffinierter. Die erzählen keine plumpen Geschichten, dass Russland von Feinden umstellt wird und so. Sondern da gibt es ziemlich smarte Agenten, die Putin sogar einerseits kritisieren – und die dann aber an anderen Stellen gezielt desinformieren. Die würden dann sagen: "Stimmt, Putin ist korrupt", aber bei ein oder zwei sehr wichtigen Themen würden sie dann sagen: "Nein, der KGB hatte bei den Anschlägen auf Moskauer Wohnanlagen sicher seine Finger nicht im Spiel" – oder sie würden Kadyrow verteidigen. Das Ganze ist sehr gerissen gemacht.

Die Welt: Hoffen Sie noch auf einen Wandel?

Kasparow: Die Tatsache, dass der Kreml jede Art von Widerspruch konstant unterdrückt, zeigt ja, dass dies kein Land ist, wo 85 Prozent der Bevölkerung hinter Putin stehen. Man weiß im Kreml nur zu gut, dass die Lage sehr instabil ist. Die Leute beginnen langsam zu verstehen, dass die Annexion der Krim und leere Kühlschränke womöglich zusammenhängen. Wir wissen nicht, wann und wie sich das manifestieren wird, aber wir wissen ja aus Geschichtsbüchern – und ich habe davon einige gelesen –, das wird irgendwann passieren.

Die Welt: Was glauben Sie denn, wird passieren?

Kasparow: Putin hat wie jeder Diktator alle Brücken längst verbrannt. Er weiß, dass es für ihn keinen Weg gibt, einfach in Rente zu gehen und sein Land anständig zu übergeben – wie Jelzin das getan hat. Er hat zu viel Blut an den Händen. Kein Zweifel: Wer immer nach ihm an die Macht kommt, selbst wenn es seine engsten Vertrauten sein werden – die werden einen Sündenbock benötigen. Und Putin weiß das. Ich weiß nicht, wie viele Geschichtsbücher er gelesen hat, aber ich bin sicher, dass er instinktiv versteht, dass er bis zum bitteren Ende an der Macht bleiben muss.

Die Welt: Was wäre das realistische Szenario?

Kasparow: Die wichtigste Voraussetzung für den Zusammenbruch dieses Regimes ist eine geopolitische, militärische Niederlage. Damit meine ich nicht so etwas wie in Berlin oder Tokio 1945 oder eine Besetzung, aber eine Niederlage, die zeigt, dass das Regime schwach ist. So wie in Afghanistan. Da hat die Sowjetunion ja auch nicht wirklich verloren, aber der Rückzug hat die Schwäche offenbart. So fangen Regime an zusammenzubrechen.

Die Welt: Nun konzentriert sich Putin auf Syrien.

Kasparow: Deshalb bin ich so wütend über die westliche Politik. Denn man hat Putin eine Gelegenheit gegeben, seine Macht zu Hause zu festigen. Ganz abgesehen davon, dass Tausende Menschen durch die Bombenangriffe getötet werden. Ihm ist das egal.

Die Welt: Inwieweit hat der Westen Putin durch seine Zurückhaltung in Syrien gestärkt?

Kasparow: Putin wurde ja von den übrigen Führern nach der Ukraine-Krise ausgegrenzt, er brauchte also etwas, das ihn wieder zurück an den Tisch brachte. Und da fand er Syrien. Und während der Intervention entdeckte er dann, dass Syrien für ihn einen weiteren positiven Effekt hatte: die Flüchtlinge. Denn eins seiner wichtigsten Ziele ist es jetzt, die Europäische Union zu schwächen, idealerweise zu zerstören.

Die Welt: Die Flüchtlinge kamen ihm da gerade recht?

Kasparow: Vor allem, weil sie ein großes Problem für seine wichtigste Gegnerin darstellen: Angela Merkel. Wenn Merkel nicht wäre, gäbe es schon keine Sanktionen mehr.

Die Welt: Der Westen hätte aus Ihrer Sicht der Ukraine entschiedener helfen sollen?

Kasparow: Es gibt eine Lehre aus der Geschichte: Appeasement bringt mehr Leute um als die Terroristen. Ich weiß, die Leute sind empfindlich bei historischen Vergleichen, aber natürlich wurden in den Dreißigerjahren viele Gelegenheiten verpasst, um Hitlers Aufstieg zu verhindern. Sonst hätten wir heute eine andere Welt. Und wenn Leute mir sagen: "Wie können Sie das vergleichen?", dann antworte ich: "Ich vergleiche den Prozess, bei dem Diktatoren nach Schwachpunkten beim Gegner suchen."

Die Welt: Das heißt, Sie würden Putin nicht mit Hitler vergleichen?

Kasparow: Doch, mache ich, aber nicht den Hitler, wie wir ihn heute sehen, sondern den, aus den Jahren 1935 bis 1938. Ich sage den Leuten immer, lest doch mal die Zeitungen aus dieser Zeit, was die "New York Times" oder "Le Monde" damals über Hitler geschrieben haben. "Ja, gut, Demokrat ist er nicht, aber er baut Deutschland wieder auf." Ich möchte nicht herausfinden, was passiert, wenn sich Putin Richtung 1940 entwickelt. Bis jetzt hat er noch kein Nato-Land angegriffen, aber wenn er noch verzweifelter wird, wäre ich nicht so sicher, ob ich Estland eine Garantie geben würde. Ich will nicht erleben, was passiert, wenn in Narwa (an der russisch-estnischen Grenze) ein hybrider Krieg beginnt.

Die Welt: Ist für Sie Politik ein Ersatz für Schach?

Kasparow: Nein, es geht nicht darum, Schach zu ersetzen, aber ich glaube, dass meine Erfahrungen mit Schach mir helfen, Dinge zu analysieren und Vorhersagen zu wagen. Es geht um Strategien. Am Ende des Tages geht man im Sport, im Geschäftsleben oder im Privaten ständig durch Entscheidungsprozesse. Schach und das Leben folgen nicht denselben Regeln.

Aber es gibt gewisse Muster. Und Lehren aus der Vergangenheit. Und ich habe halt gewisse Fähigkeiten, die versuche ich anzuwenden, auch wenn ich politische Dinge analysiere.

Garri Kasparow, 52, stammt aus einer armenisch-jüdischen Familie und wuchs in Aserbaidschan auf. Er dominierte fast 20 Jahre lang die Schachwelt. Seit Mitte der Nullerjahre engagierte er sich als einer der führenden Oppositionellen gegen Wladimir Putin. 2007 war er russischer Präsidentschaftskandidat, wurde jedoch genötigt, seine Kandidatur zurückzuziehen. Gemeinsam mit dem im vergangenen Jahr ermordeten Boris Nemzow gründete er 2008 die Bewegung Solidarnost. Nach Verhaftungen und Schikanen verließ er 2013 Russland vorerst und lebt momentan in New York. Seit 2014 besitzt er die kroatische Staatsbürgerschaft. Sein Buch "Warum wir Putin stoppen müssen" erschien bereits auf Deutsch bei DVA, die französische Übersetzung folgt in Kürze.

Der Tempel weist seit Beginn des Syrien-Krieges ganz konkret auf Zusammenhänge und Fakten des nicht allein politischen Agierens der russischen Administration hin. Wie man inzwischen auch anderenorts begriffen hat ,waren die warnenden und informativen Worte noch nicht ganz verhallen, als die ersten Machtansprüche des russischen Oligarchen-Führers aggressiv durchgesetzt wurden. Wir sehen diese Entwicklung sehr kritisch und besorgt.

 

Frá Arkesh Singh

Komtur des Tempels

08.03.2016 | 296605 Aufrufe

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