Vor sechs Jahren entdeckten Ermittler in einem Haus in Istanbul 27 Handgranaten, Sprengstoff und angebliche Geheimdokumente. Ein Sonderstaatsanwalt nimmt Ermittlungen auf, kurz danach erfährt die Öffentlichkeit von einem angeblichen Geheimbund namens Ergenekon. Anklage: Mehr als 300 Personen werden unter Anklage gestellt. Sie alle sollen sich verschworen haben, die AKP-Regierung von Recep Tayyip Erdogan zu stürzen. Ergenekon wird zum Synonym für den sogenannten tiefen Staat.

Anfangs begrüßen viele Liberale der Türkei das Verfahren, doch schnell kamen erhebliche Zweifel auf und an die ganz große Verschwörung können die meisten Türken mittlerweile nicht mehr glauben. Beobachter sprechen von einer regelrechten Hexenjagd gegen echte und vermeintliche kemalistische Kritiker der Erdogan-Regierung. Denn das ist es, was die Verurteilten als einziges Gemeinsam haben: Sie sind säkulare Verteidiger der Ideen des Republikgründers Mustafa Kemal. Beweise für einen geplanten Umsturz konnte die Staatsanwaltschaft nicht einen Einzigen vorweisen. Alle Anschuldigungen und somit Verurteilungen begründen sich auf die bloße Beschuldigung durch  AKP-Spitzenfunktionäre.

Die Urteile an politisch gefärbter juristischer Großkotzigkeit nicht mehr zu überbieten: Einige der insgesamt 275 Angeklagten erhielten langjährige Haftstrafen. Der ehemalige Generalstabschef Ilker Basbug wurde zu lebenslanger Haft, ein früherer Oberst zu 47 Jahren Gefängnis verurteilt. Andere ehemalige Militärs erhielten Haftstrafen von bis zu 20 Jahren, wie unsere Prozessbeobachter mit erheblicher Befremdung zur Kenntnis nehmen mussten. Alle wirklich für die Opposition in der Türkei bedeutsamen Angeklagten wurden also genau solange verurteilt, dass sichergestellt ist,  eine Entlassung zu Lebzeiten auf jeden Fall zu unterbinden. Lediglich 21 der 275 Angeklagten - darunter auch einige Militärs, Journalisten und Akademiker – erhielten einen Freispruch; diese waren offensichtlich allein durch gezielte Falsch-Denunziation von politischen Opportunisten in die Liste der Verschwörer eingereiht worden.

Hunderte Sympathisanten hatten sich trotz Verbots versammelt, um gegen den Prozess zu demonstrieren. Als sie sich zu einem Feld nahe dem Gericht bewegten, ging die Polizei mit Tränengas vor. Ein Wasserwerfer löschte dann das Feuer, das die Schüsse auslösten. Derweil kreisten über dem Gelände Helikopter.

Allein regierungsnahe Medien und Unterstützer der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung jubelten über das Urteil. Sie sehen darin einen wichtigen Sieg über den sogenannten tiefen Staat.

Aber nicht nur türkische Kritiker sehen es freilich als Beweis für Erdogans autoritäre Politik. 600 Verhandlungstage dauerte der Prozess in dem eigens dafür errichteten Gerichtsgebäude innerhalb der Strafanstalt Silivri, mehr als 4 Millionen Seiten und 1,5 Terrabyte an Beweismitteln mussten Richter und Verteidiger sichten. Die digitalen Dokumente sind ohne jegliche Signatur und nicht tatsächlich irgendjemandem persönlich zuordnen, beklagten nicht nur die Verteidiger. Selbst einige Richter zeigten sich völlig überfordert und konnten allein durch die Verfahrensführung des Vorsitzenden – welcher hier nach bekannter Freisler Manier (siehe Wiki Roland Freisler) agierte – eingeschüchtert und bei Stange gehalten werden Draußen vor dem Gericht war man sich einig: Das ganze Verfahren sei eine Farce.

Die türkische Regierung geht hier keineswegs gegen eine kleine, geheime Gruppe von Verschwörern vor, sondern gegen einen Großteil der Streitkräfteführung. Auch viele Schriftsteller, Journalisten, Anwälte, Geschäftsleute und Oppositionspolitiker sitzen in Haft. Erdogan, davon sind nicht nur  viele Kritiker überzeugt, betreibt eine Hexenjagd auf politische Gegner und Kritiker. Es sind die Auswüchse einer verunsicherten, gespaltenen Republik, in der Modernisierung und Islamisierung gleichzeitig voranschreiten. Die Grenzen verlaufen oft nicht trennscharf und oft auch im Zickzack, hier das einfache Volk, dort die Intellektuellen; hier die Religiösen, dort die Säkularen; hier die Kemalisten, dort die Erdogan-Anhänger. Erdogan hat aus der einstigen Militärdiktatur einen Polizeistaat islamischer Prägung gemacht.

Erdogan, seit Frühjahr 2003 an der Macht und seit Juli 2011 zum dritten Mal im Amt, macht vielmehr den Eindruck, wie ein machtsüchtiger Herrscher selbst die leiseste Opposition kaltzustellen. Inzwischen ist offensichtlich, dass es hier nicht um die Unterwerfung des Militärs unter demokratische Regeln, sondern schlicht um den Machterhalt des selbsternannten Paschas von Ankara geht.

Die Zahl der Verhaftungen und Einschüchterungen hat in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich zugenommen. Längst trauen sich viele Journalisten nicht mehr zu schreiben, was ist, verzichten Schriftsteller auf öffentliche Auftritte, benötigen Regierungskritiker Personenschutz. Das Anti-Terror-Gesetz ist ein wirkungsvolles Machtinstrument der Herrschenden geworden, die angebliche Terrorgefahr ein schwer zu widerlegender Vorwurf. Die Angst, da wolle jemand die Türkei destabilisieren, ihr schaden, sitzt tief.

Während Intellektuelle entsetzt vor der Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit warnen, spenden viele Türken – vor allem im Ausland - nach wie vor Erdogan Beifall, wenn er mit Härte gegen angebliche Staatsfeinde vorgeht. "Wir zeigen eine feste und mutige Haltung, um unser Land und unsere Bürger von den Belästigungen durch Banden und Mafiosi zu befreien", sagt er. Und: "Niemand steht über dem Gesetz. Wir sind dazu entschlossen, gegen illegale Banden zu kämpfen", zitiert ihn die Zeitung "Hürriyet".

Politische Morde hat es in den vergangenen Jahren tatsächlich etliche gegeben in der Türkei. Aber inzwischen konnte eindeutig der Beweis erbracht werden,  dass in Wahrheit die Drahtzieher dieser Attentate und Morde in staatlichen Behörden beschäftigt sind.

Die aktuellen Proteste in der Türkei und die mehr als fragwürdigen und rechtsstaatlich zweifelhaften Reaktionen der Regierung zeigen, wie dieser Staat derzeit tickt. Aber die Quittungen für diese Großmachtbestrebungen unter islamischer Flagge sind bereits gedruckt – die Flamme des Zweifels nagt im Untergrund und immer neue Feuer werden aufzüngeln und das Land und das Volk letztlich in einem Feuersturm vom Schleier der Verblendung befreien.

„Sicher Recep Tayyip Erdogan, wir brauchen dich sehr – deine Nähe verbreitet eine Atmosphäre aberwitzigen Grauens!"

 

Frá Danhui Li

Ritter des Tempels

06.08.2013 | 3112 Aufrufe