In einem Gutachten erklärt Paul Kirchhof, Rechtsprofessor und ehemaliger Bundesverfassungsrichter, warum die EZB mit ihrer Zinspolitik in ein elementares Grundrecht eingreift. Im Interview sagt er auch, was Deutschland tun sollte, um den stabilen Euro zu retten. Präzise Analysen und klare Worte, dafür ist Paul Kirchhof bekannt. Er ist Professor für öffentliches Recht und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Von 1987 bis 1999 war er Richter des Bundesverfassungsgerichts und hat sich dort unter anderem mit dem Euro und den Maastricht-Verträgen beschäftigt.
Seine Idee, das deutsche Steuersystem so zu vereinfachen, dass eine Steuerklärung auf einen Bierdeckel passt, hat sich nicht durchgesetzt. Das lag aber weniger an der Durchführbarkeit als am Durchsetzungswillen seitens des Gesetzgebers. Jetzt hat Kirchhof sich in einem Gutachten mit der Zinspolitik der EZB beschäftigt. Das Ergebnis ist nicht nur als Appell zum Handeln an die deutsche Politik zu verstehen, sondern auch als Mahnung an die Einhaltung rechtsstaatlicher Normen und Warnung vor dramatischen Folgen bei der Überdehnung der Leidensfähigkeit der Bürger.
Professor Kirchhof stellte sich in einem Interview mit der WELT den Fragen zum Gutachten:
WELT: Herr Professor Kirchhof, Sie haben für die Sparda-Banken ein Gutachten zur Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) erstellt. Danach ist deren Null- und Negativzinspolitik verfassungswidrig. Warum?
Paul Kirchhof: Der Sparer ist von dieser Geldpolitik unmittelbar betroffen in einer Rechtsposition, die ihm seit vielen Jahrzehnten in Deutschland und überall vertraut war. Er gibt sein Kapital der Bank seines Vertrauens, erwartet am Jahresende drei Prozent Zins, hat fast kein Risiko und muss sich nicht weiter in Erwerbsanstrengungen um diese Ertragsquelle kümmern. Doch die EZB hat mit ihrer Marktmacht diese Ertragsquelle versiegen lassen. Denn die Nullzinspolitik bedeutet, dass das gesparte Kapital nicht mehr arbeitet.
WELT: Und die Negativzinsen?
Kirchhof: Damit geht die EZB noch einen großen Schritt weiter: Jahr für Jahr nimmt sie dem Sparer über ihre Leitzinssatzpolitik 0,5 Prozent weg, ohne ihm dafür etwas zu geben. Die EZB veranlasst eigenmächtig, dass Eigentum von privater in die öffentliche Hand übergeht. So etwas steht ihr nicht zu, das ist Kompetenzanmaßung. Mit dem Negativzins wird der Sparer enteignet, obwohl der Staat prinzipiell nicht auf Privateigentum zugreifen darf. Das ist verfassungswidrig und widerspricht auch dem Europarecht. Die Garantie des Privateigentums ist die Garantie der ökonomischen Grundlage individueller Freiheit.
WELT: Der Sparer kann doch in renditeträchtige Anlageformen wie Aktien oder Immobilien gehen.
Kirchhof: Das Argument, dass der Sparer lediglich eine Marktchance weniger hat, kommt oft. Doch diese Sicht ist verkehrt. Nehmen wir einen Winzer, der Wein produziert. Ob er Umsatz und Gewinn macht, entscheidet der Markt. Aber wenn der Staat dem Winzer die Rebstöcke so beschneidet, dass diese keine Früchte mehr hervorbringen, dann wäre das ein Eingriff in die Eigentümerfreiheit. Und wenn der Staat dem Winzer dann sogar Jahr für Jahr einige Rebstöcke wegnimmt, dann ist das ein Substanzentzug von Eigentum, den die Verfassung nicht erlaubt. Dem Sparer zu sagen, er könne in Aktien oder Kunst investieren, ist so, als riete man dem Winzer, stattdessen Bier zu brauen oder Fruchtsäfte zu verkaufen. Das ist aber gar nicht seine Welt.
WELT: Gibt es ein Grundrecht auf Zinserträge?
Kirchhof: Es gibt ein Grundrecht, sein Eigentum nutzen zu dürfen. Das ist Teil der Eigentümerfreiheit. Und dieses Grundrecht wird dem Sparer durch die Zinspolitik der EZB genommen. Die EZB denkt stets in Globalpolitik und sieht nicht die Folgen für die einzelnen Menschen. Das deutsche Verfassungsrecht stellt dagegen die Grundrechte des Einzelnen an den Anfang. Es geht hier um das individuelle Recht des Sparers, sich am Finanzmarkt zu beteiligen, ohne täglich Risiken einzugehen und neue Anlageformen zu verfolgen. Das will die Mehrheit der Deutschen nicht.
WELT: Die EZB ist unabhängig. Wer könnte denn einschreiten, um sie auf einen anderen Zinskurs zu bringen?
Kirchhof: Die Europäische Zentralbank wurde als unabhängige Institution geschaffen und dient nur dem einen Auftrag, für Preisstabilität zu sorgen, also vor allem die Kaufkraft des Arbeitnehmers, des normalen Bürgers, in Geldwert zu sichern. In der Vergangenheit galt eine Inflation von maximal zwei Prozent noch als tolerabel. Mittlerweile hat die EZB eigenmächtig diese Höchstgrenze zur Zielmarke umdefiniert. Mit der regelmäßigen Minderung des Geldeigentums um zwei Prozent und dem Negativzins hat die Europäische Zentralbank ihr eng auf die Sicherung der Preisstabilität begrenztes Mandat ganz offensichtlich verlassen. Sie betreibt jetzt Wirtschaftspolitik.
WELT: Und niemand kann sie mehr aufhalten?
Kirchhof: Alle diese europäischen Rechtsakte sind nur dann wirksam, wenn sie in dem europäischen Vertrag geregelt sind. Und wenn die EZB außerhalb ihrer vertraglich vereinbarten Kompetenzen und Befugnisse handelt, dann ist das null und nichtig, juristisch gesehen.
WELT: Aber wer setzt das Recht durch, das Bundesverfassungsgericht?
Kirchhof: Das Bundesverfassungsgericht hat das PSPP-Programm der EZB, ein Programm zum Aufkauf von Staatsanleihen, beanstandet und die EZB zur Begründung aufgefordert. Das Programm hat einen Umfang von über zwei Billionen Euro und hat erhebliche Auswirkungen auf Sparer, Immobilienkäufer oder Aktienbesitzer. Doch der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat ohne Prüfung der Rechte dieser Betroffenen alles für rechtens erklärt. Dann war Karlsruhe wieder am Zug.
WELT: Sitzt der EuGH nicht am längeren Hebel?
Kirchhof: Nein, damit die EU als Staatenverbund funktioniert, brauchen wir eine gute Form der Gewaltenbalance. Der EuGH überprüft, ob Europarecht überall in der EU einheitlich angewandt wird. Das Europarecht gilt aber in Deutschland nur deshalb, weil der Bundestag mit verfassungsändernder Mehrheit zugestimmt hat. Das ist die Brücke, über die Europarecht Deutschland erreicht. Das Gleiche gilt auch für alle anderen Mitgliedstaaten. Die EZB schickt jetzt auf diese Brücke einen total überladenen Finanztransporter, der Geld in die Länder bringen soll. Weil er so überladen ist, droht die Brücke einzustürzen. Der EuGH müsste einschreiten, tut es aber nicht. Deshalb muss das Bundesverfassungsgericht ein Stoppschild aufstellen. Es ist doch im Sinne der gesamten Union, dass die Brücke nicht einstürzt.
WELT: Weil Karlsruhe schließlich 2020 das Anleihekaufprogramm für teilweise verfassungswidrig erklärt hat, droht die EU-Kommission Deutschland mit einem Vertragsverletzungsverfahren – eskaliert der Streit jetzt?
Kirchhof: Wenn dieses Verfahren durchgeführt wird – was die Klugheit der Beteiligten verhindern möge –, dann wird in letzter Zuständigkeit der EuGH darüber entscheiden, ob der EuGH den Vertrag verletzt hat. Er soll also in eigener Sache urteilen. Das widerspräche der Tradition des unabhängigen und unbefangenen Richters, die wir nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Rechtstradition aller Mitgliedstaaten haben. Der EuGH verlöre an Autorität – ausgerechnet in einer Phase, in der man in der EU einigen osteuropäischen Regierungen den Vorwurf mangelnder Rechtsstaatlichkeit macht. Und jetzt klingt der Gedanke an, die Bundesregierung solle auf Richter Einfluss nehmen.
WELT: Die lockere Geldpolitik hilft Südeuropa inklusive Frankreich. Ist diese Solidarität nicht wichtiger als die Bankguthaben einzelner Bürger?
Kirchhof: Die Umverteilung unverdienter Einnahmen entsolidarisiert. Der Geber kritisiert, es sei zu viel, der Empfänger, es sei zu wenig. Das Recht auf Zinsen auf Sparguthaben ergibt sich nicht nur aus dem Grundgesetz, sondern auch aus dem Europarecht. Das ist in diesem Punkt deckungsgleich. Die Frage ist, wie dieses Recht durchgesetzt wird. Die Bundesregierung, die an das Grundgesetz gebunden ist, muss darauf hinwirken, dass das Unrecht nicht passiert. Und der Präsident der Deutschen Bundesbank als Mitglied im Rat der EZB muss dort sein Veto einlegen.
WELT: Und wenn die EZB ihren Kurs ungehindert fortsetzt?
Kirchhof: Wenn dieser Kurs fortgesetzt wird, droht ein fundamentaler Stabilitätsverlust. Das bedeutet, dass die staatlichen Darlehensverträge nie erfüllt werden. Der Geldwert kann nicht stabil gehalten werden. Denn bei dieser hohen Staatsverschuldung wird er zusammenbrechen. Der deutsche Steuerzahler wird sich wehren, wenn seine Steuern nicht für das hiesige Gemeinwesen verwendet werden, sondern zur Finanzierung des Finanzmarktes.
WELT: Die Staatsverschuldung in der EU ist in der Coronakrise in die Höhe geschnellt. Steigende Zinsen könnten Länder wie Italien oder Spanien gar nicht verkraften.
Kirchhof: Viele Länder haben unabhängig von der Pandemie einen weit höheren Schuldenstand, als die im Stabilitätsvertrag geltende Höchstgrenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Italien liegt bei über 150 Prozent, Frankreich bei mehr als 110 Prozent. Dennoch kann man nicht ab morgen eine völlig andere Geld- und Schuldenpolitik betreiben. Aber wir müssen jetzt umkehren und damit beginnen, uns den 60 Prozent wieder anzunähern, statt uns immer weiter von dieser Marke zu entfernen. Auf keinen Fall sollte die EU einfach die Stabilitätsziele aufweichen.
WELT: Warum wäre das gefährlich?
Kirchhof: Weil der Wert des Geldes ausschließlich auf Vertrauen gründet. Wenn der Eindruck entstünde, die Länder halten sich nicht an die Verträge, sondern verschulden sich immer mehr, geht dieses Vertrauen verloren. Deshalb sind Umkehr- und Erneuerungsmaßnahmen so entscheidend. Wenn man sieht, dass die Schuldenstände wieder sinken, dann schafft das Vertrauen. Die Geldpolitik spielt hier eine entscheidende Rolle. Die EZB muss aufhören, einen Anreiz für immer höhere Schulden zu setzen.
WELT: Die Deutschen pochen auf die Einhaltung der Regeln. Die Franzosen stehen für eine flexiblere Auslegung und argumentieren politischer. Liegt hier ein unlösbarer Konflikt?
Kirchhof: Das ist eine völlige Überzeichnung der Wirklichkeit. Auch ein Franzose beharrt bei Geldangelegenheiten auf seinem Anspruch und klagt die Erfüllung des Rechts notfalls ein. Doch Frankreich steht bei der Staatsverschuldung nicht besonders gut da. Und die Franzosen wollen dieses Problem über die gemeinsame europäische Haftung zu einem erheblichen Teil mit uns zusammen finanzieren.
WELT: Bei der Entscheidung in der Coronakrise für die Aufnahme gemeinsamer Schulden in der EU zur Finanzierung des Wiederaufbaufonds kam von den sogenannten „Sparsamen Vier“ – Österreich, den Niederlanden, Schweden und Dänemark – Widerstand. Und jetzt pochen diese Länder darauf, dass diese Umverteilungsmaßnahme keine Dauereinrichtung wird. Sollte Deutschland den Schulterschluss mit den Sparsamen suchen?
Kirchhof: Es wäre ganz wichtig, dass Deutschland als Hauptbetroffener dem Club beiträte. Denn dies wäre die Rettung der Europäischen Währungsunion. Das entspräche auch unserem Auftrag. Wenn wir das Spiel so weiterspielen, dann wird es den stabilen Euro bald nicht mehr geben. Das Thema gehört ins deutsche Parlament. Dass weitreichende europarechtliche Beschlüsse wie die gemeinsame Schuldenaufnahme der EU ohne richtige Debatte im Bundestag umgesetzt werden, ist ein Problem. Die Abgeordneten müssen gute Europäer werden und die europäische Entwicklung mit konstruktiver Kritik begleiten. Tiefgreifende Veränderungen in der EU gehen nur über eine Änderung des Europavertrags. Die Alternative, eine Vertragserneuerung durch ständigen Vertragsbruch, führt Europa in die Irre. Es ist Pflicht der deutschen Politik, dies im Sinne der Sparer und zum Wohle Europas zu verhindern. Ansonsten ist der deutsche Sparer der Leidtragende.
Wie Leidensfähig aber ist dieser und wo liegt die Grenze der Duldungsfähigkeit?