SOL ergeht sich in Gedanken an „eine Menschheit“, eine globale Idee, einer Gesellschaft, in der sich ein gemeinsamer Wille in den Institutionen und Gesetzen verkörpert. Er begibt sich damit in die Gedanken- und Ideenwelt Rousseaus und schließt selbst Ideenfragmente aus Platons Politeia in seine Welt mit ein. Aber ist solches überhaupt möglich?
Ein gemeinsamer Wille in Anwendung des Transparenzideals auf die Gesellschaft bedeutet aber nicht die abstrakte Summe vielfältiger Willensstrebungen oder einen statistischen Mehrheitswillen, sondern ist Ausdruck eines Strebens des Herzens und der Vernunft, die alle miteinander verbindet, natürlich unter der Voraussetzung, dass jedermann in seinen eigenen Grund hinabreicht. Wenn das geschieht sind alle voreinander gleich und darum auch alle füreinander durchsichtig.
Doch selbst in der Gesellschaftsutopie muss man wahrnehmen und erkennen, dass es auch dort keinen Platz für den Anderen in seinem Anderssein geben kann. Nur unter der Voraussetzung der völligen Gleichschaltung, Gleichmachung, das völlige „aequilibrium“, totale wirtschaftliche, soziale, intellektuelle und religiöse Gleichheit, könnte man eine befriedete Gesellschaft zumindest „erdenken“. Imaginieren ginge schon zu weit. Es ergeht sich in die Spur gefährlicher Träume und spätestens seit Robespierre sollten solche aus den auch nur erdachten Möglichkeiten verbannt sein.
Gemäß Jean-Jacques Rousseau erzeugen alle Mitglieder einer Gemeinschaft in freiwilliger Übereinkunft einen Gemeinwillen, die volonté générale. Der Gemeinwille orientiert sich am Gemeinwohl und hat dabei immer Recht. Er gilt absolut, auch wenn Einzelne ihn ablehnen. Er ist nicht einfach der Wille der Mehrheit, sondern derjenigen, die tugendhaft und im Besitz der Wahrheit sind. Jeder, der den Gemeinwillen angreift, stellt sich außerhalb der aufgeklärten Gemeinschaft. Für Robespierre bedeutete dies, dass die Gegner der Republik nur die Wahl zwischen einer Änderung ihrer Überzeugungen und dem Tod haben durften. Je grausamer die Regierung gegenüber den Verrätern auftrete, desto wohltätiger sei sie gegenüber den braven Bürgern, ließ Robespierre 1793 verlauten. Die Terrorherrschaft war demzufolge ein notwendiges Übel, um das Volk für den von Rousseau empfohlenen Gesellschaftsvertrag bereit zu machen. Ohne Tugend, meinte Robespierre, sei Terror verhängnisvoll, ohne Terror die Tugend machtlos.
Rousseau suchte nach Möglichkeiten einer Gesellschaftsreform, die dem Einzelnen für das verlorene natürliche Selbst ein gesellschaftliches Äquivalent geben kann. Er ersann die Möglichkeiten „guter gesellschaftlicher Einrichtungen“. Es sollten solche sein, die es am besten verstanden dem Menschen seine Natur zu nehmen, ihm seine absolute Existenz zu entziehen und ihm als Ersatz eine relative zu geben – sein „ICH“ auf die Einheit der Gemeinschaft zu übertragen, so dass sich jeder als Teil dieser Einheit fühlt. Der aus dem Naturzustand gerissene Mensch sollte nur dann wirklich glücklich sein können, wenn er vollkommen im Gemeinwesen aufgeht, wenn er seine individuelle Freiheit und Selbständigkeit in den Dienst des größeren Ganzen stellt.
Doch der Mensch genügt von Natur aus nicht sich selbst und seine Freiheitslust und sein artspezifisch immanenter Egoismus werden ihn in fortwährenden Widerspruch zwischen Pflicht und Neigung setzen. Will man den Menschen von diesem Widerspruch befreien, so darf man nicht nur einen gut funktionierenden Staat schaffen, man muss einen neuen Menschen heranbilden. Man muss alles auf eine Karte setzen. Halbe Lösungen oder permanentes Verschieben von politischen Erfordernissen vergrößern nur die Qual der zerreißenden Widersprüche.
Wer sich diesen Ideen jedoch zu sehr verschreibt, ist leicht auf neue Irrwege zu leiten. Zu nah sind diesen Gedanken neuere Ideologien und auch „alte“ Religionen und zu leicht verführen solche zu den ideologischen Verirrungen Robespierres. Die idealisierten Gesellschaften Platons und auch Rousseaus müssen kritisch reflektiert und allein die positiven Erkenntnisse hieraus in eine zukunftsweisende globale Gesellschaftsidee eingebracht werden. Sowohl Platon als auch Rousseau mussten letztlich zugeben, dass „ihr“ ideales Gemeinwesen nicht größer sein konnte als die Reichweite sogenannten nachbarschaftlichen Sinns.
Wer heute noch vorgibt, die ganze Menschheit lieben zu können und mit dem Hinweis auf die Menschenliebe die Liebe zu einem beschränkten Gemeinwesen kritisiert, der ist ein Betrüger. Der im Humanismus begründete, aktive Versuch der Auflösung und Zwangsverbrüderung von Nationalstaaten und die politisch forcierte Terminierung von Nationalitäten durch völkische Vermischung auf globalem Niveau sind zwar verständlich, widersprechen aber selbst der nur schwach entwickelten menschlichen Vernunft. Die Menschheit gibt es nicht – es gibt nur Menschen, getrieben von widerstreitenden Bedürfnissen und Illusionen und anfällig für jede Art von Willens- und Urteilsschwäche.
Wäre der Mensch klüger und moralisch gefestigter würde er die Technologien des 21. Jahrhunderts ausschließlich konstruktiv nutzen. Die Menschen selbst sind technologische Vorrichtungen, die in der Vorzeit von Bakterienverbänden als Instrumente entwickelt wurden, um das Überleben ihres Erbgutes zu sichern. Der Mensch ist Teil eines komplexen Gefüges, das aus der einstigen Eroberung der Erde durch die Bakterien hervorgegangen ist. Seine Fähigkeiten und seine Intelligenz sind Merkmale, die nicht nur ihm selbst, sondern dem Leben als Ganzem angehören.
Der Humanismus, mit seinen ganzen, in den modernen Zivilisationen und Gesellschaftsformen zu erkennenden, Verirrungen und Entgleisungen, hebt den Menschen zurück auf ein Podest, von dem er durch die von den abrahamitischen Religionen ausgelösten Entmenschlichungen der letzten beiden Jahrtausende, herabgestürzt war. Die wirklich allermeisten Menschen, also nahezu alle, folgen in ihrem Handeln nicht moralischen Regungen, die hin und wieder erwachen, und noch weniger dem, was in ihrem Eigeninteresse läge, sondern den Erfordernissen des Augenblicks. Dabei ist kein Unterschied zwischen „denen da Oben“ oder dem „Normalbürger“ festzustellen. Sie scheinen dazu verurteilt, das Gleichgewicht des Lebens auf der Erde zu zerstören – und damit den eigenen Niedergang herbeizuführen. Wahre Freunde der Erde und der Evolution träumen nicht davon, ihre weisen Verwalter zu werden, sondern von der bereits erkennbaren Zeit, in der es auf den Menschen nicht mehr ankommen wird.
Frá Sumedha Gupta
Komtur des Tempels
- Zwar hat die menschliche Unvernunft nicht zugenommen. Ruinös angestiegen ist jedoch die Zahl der Unvernünftigen -
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- admin -« (27.04.2015, 12:34)