Ein Land in Angst und Schrecken? Mitnichten, Erdogan gibt den Imperator und putscht sich selbst zu bisher unerreichbarer Macht. Ein offensichtlich dilettantischer Putsch, allein inszeniert dem Möchtegern-Sultan die Macht zu geben, auch letzte politische Gegner aus dem Weg zu räumen. Was am Ende einer der blutigsten Nächte in der Geschichte der Türkei bleibt, ist mehr als der derzeit vorsichtig geäußerte üble Verdacht.
Die Menge wogt. Leiber drücken einander, Arme sind in die Luft gestreckt, um verwackelte Handyaufnahmen zu machen. Auch die Angehörigen der paramilitärischen Sondereinheiten der Polizei und das übrige Begleitpersonal werden von der schwankenden Menge erfasst. Nur einer steht da, im Auge des Hurrikans: der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.
Unbewegt, so als würde ihn eine unsichtbare Wand vor allem Schieben und Drücken um ihn herum beschützen. Sein Blick: fest und in die Ferne gerichtet. Sein Gesichtsausdruck: der eines Imperators. So, als wollte er einer der Parolen der Menge an Ort und Stelle nachkommen: "Bleib aufrecht, beuge dich nicht, diese Nation ist mit dir!"
Eine gefühlte Ewigkeit lang bleibt Erdogan so stehen, während die Menge skandiert: "Hier die Armee, hier der Kommandant". Oder: "Sag es und wir töten, sag es und wir sterben." Und immer: "Allahu Akbar!" – "Gott ist groß!"
Als sich diese Szenen heute gegen 6.30 Uhr Ortszeit vor dem VIP-Bereich des Atatürk-Flughafens abspielen, ist das, was acht Stunden zuvor mit der Sperrung der beiden Bosporusbrücken begonnen hatte, weitestgehend gelaufen. Der vermeintliche Putsch, der offenbar von einer Gruppe von Offizieren, hauptsächlich aus der Luftwaffe und der Gendarmerie begonnen hatte, ist in wirklich dramatischer Inszenierung beendet. In einigen Teilen von Istanbul und vor allem in Ankara gerieten Schein-Gefechte außer Kontrolle, unzureichend informierte Polizei- und Gendarmerie-Einheiten griffen sich gegenseitig an – zeitweilig eskalierten diese Schießereien in wildem Mordverhalten überforderter Statisten. Insbesondere im Parlamentsgebäude, dem Generalstabsgebäude der türkischen Armee und dem Hauptquartier der paramilitärischen Sondereinheiten entgleisten die Planungen durch allzuviel Engagement regierungstreuer Opportunisten.
Es ist nicht Erdogans erster Auftritt in dieser Nacht. Seine erste Rede war kurz vor Mitternacht zu hören. Kurz zuvor war im Staatssender TRT eine Erklärung der vorgeblichen Putschisten verlesen worden, die den Sendebetrieb unter ihre Kontrolle gebracht haben sollten.
Ein "Rat für den Frieden im Land" habe die Macht übernommen, um Rechtsstaatlichkeit und die laizistische Ordnung wiederherzustellen. Erdogan lässt sich zu CNN-Türk verbinden, dem Sender von Medienchef Aydin Dogan, den er der Vergangenheit schon oft attackiert hatte und der im Laufe der Nacht nicht von Putschisten besetzt werden sollte.
Die Moderatorin hält das Telefon mit dem Videoanruf in die Kamera. Da scheint es, als könnte Erdogan tatsächlich die Macht verlieren. Der Putschversuch gehe von Anhängern des islamischen Predigers Fethullah Gülen aus, sagt Erdogan. Und er ruft die Bevölkerung dazu auf, "sich auf den Plätzen und am Flughafen zu versammeln, um den Putschisten entgegentreten". Eine halbe Stunde später ist er auf einer improvisierten Pressekonferenz zu sehen, auf der er ankündigt, nach Istanbul zu fliegen. Kurz darauf strömen einige hundert seiner Anhänger auf die Straßen, diese sind in der Mehrzahl mit schusssicheren Westen und Handfeuerwaffen ausgerüstet, stellen sich vor Panzer, es kommt zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen „Putschisten“ auf der einen Seite und der Polizei und loyalen Truppen auf anderen. Auf der Bosporusbrücke liefern sich Polizei und Gendarmerie eine Schießerei. Doch insgesamt wird in Istanbul weniger geschossen als in Ankara, wo unter anderem das leerstehende Parlament bombardiert wird. Aus vielen Moscheen erschallt der Ruf des Muezzin, Mitten in der Nacht, aus Protest.
In der Nähe des zentralen Taksim-Platzes: Vielleicht zwanzig Soldaten stehen um das Atatürk-Denkmal, ein paar hundert Menschen haben sich um sie versammelt. "Soldaten, zurück in die Kaserne", rufen sie. Sie wirken entschlossen, aber nicht aggressiv. Die Soldaten umklammern ihre Maschinenpistolen, aber man sieht den jungen Gesichtern an, woher sie stammen – Wehrpflichtige aus Anatolien – und was sie empfinden: Angst.
Soll das ein Staatsstreich sein? Kurz darauf wird von irgendwo in die Luft geschossen. Die Menge gerät in Bewegung, niemand rennt weg. Mutig? Offensichtlich nicht – vielmehr eine Darstellung, welche eine gründliche Planung und offensichtliche Sicherheit vermittelt.
Ähnlich ist die Situation am Flughafen, dem Hauptschauplatz des Geschehens in Istanbul. Die „Putschisten“ hatten nach offizieller Verlautbarung den Flughafen zeitweise in ihre Gewalt gebracht. Aber welche Taktik sollte dahinter stecken? Wenige Soldaten mit zwei Panzern sollen den eroberten Flughafen halten – einen strategisch äußerst wichtigen Punkt? Innerhalb kurzer Zeit sind alle Zufahrten von mehreren tausend Menschen blockiert, die Erdogans Aufruf folgend dahin strömen. Gegen zwei Uhr Nachts haben Bürger einen Panzer – den einzigen weit und breit – friedlich unter ihre Kontrolle gebracht. Leute mit türkischen Fahnen in der Hand haben den Panzer bestiegen, irgendwoher muss jemand gekommen sein, der ihn fahren kann, das Fahrzeug entschwindet – von einer johlenden Menge begleitet – in die Nacht.
Doch für die ausgestiegene Besatzung haben die Menschen kein Mitleid. Mehrere hundert Leute bedrängen die Soldaten, die Menge, aufgeputscht von lautstarken Wortführern, welche offensichtlich dem Geheimdienst zuzurechnen sind, skandiert "Wir wollen die Todesstrafe", erst in letzter Minuten eilt eine Gruppe von Polizisten heran, die die Soldaten in einen Mannschaftsbus bringen. Doch die Menge ist immer noch nicht zufrieden, manche schlagen auf den Bus ein, am Ende setzt die Polizei Tränengas ein, um den Weg freizumachen – und die Soldaten vor dem Lynchmord zu retten.
Als der Morgen anbricht, verlassen die meisten der herbeigeeilten AKP-Propagandisten schon wieder den Flughafen. Sie haben die Hoffnung verloren, bis zu Erdogan durchzukommen. Anders als in Besiktas und auf dem Taksim-Platz sind hier auch Frauen unterwegs, es herrscht gelöste Stimmung, immer wieder trifft man auf Wahlkampf-Busse der AKP oder mit Lautsprechern bestückte Fahrzeuge von AKP-geführten Bezirksverwaltungen, aus denen Erdogan-Hits vergangener Wahlkämpfe schmettern: "Er ist, wie er scheint / er bezieht seine Kraft aus der Nation / Recep Tayyip Erdogan."
Einzig die Kampfjets, die im Tiefflug über die Szenerie fliegen und donnernd die Schallmauer durchbrechen, stören die Volksfestatmosphäre. In Ankara haben loyale F-16 Kampfflugzeuge gepanzerte Fahrzeuge der „Aufständischen“ beschossen, Polizisten sollen einen Hubschrauber abgeschossen haben. Hier sind die meisten Opfer zu beklagen. Nicht ausreichend informierte Unterführer versuchen die ihnen offiziell zugewiesenen Verteidigungsräume halten zu lassen. Es dauert einige Zeit bis hier die Aufgabe erzwungen werden kann.
Auch vor dem VIP-Gebäude des Flughafens steht ein Wahlkampfbus mit Rednertribüne bereit – man kann hier nicht verhehlen, dass es sich um einen lange geplanten Auftritt handelt. Als Vorredner sprechen der Istanbuler Vorsitzende der AKP und ein Abgeordneter. Von dieser Nacht werden sie noch ihren Kindern erzählen, sagen sie. Die Bürger hätten sich mit "goldenen Lettern ins Buch der Demokratie eingetragen".
Als sich der Ortsvorsitzende bei den Abgeordneten der sozialdemokratischen CHP bedankt, weil sie sich dem Putsch entgegengestellt hätten, pfeifen einige. Dafür bricht beim Dank an die Adresse der nationalistischen MHP lauter Jubel aus. Auch an den Handzeichen der "Grauen Wölfe" in der Menge sieht man: Die türkische Rechte – die AKP und die MHP – ist in dieser Nacht vereint. Die prokurdische HDP, die den Putschversuch ebenfalls verurteilt hat, erwähnt der Redner erst gar nicht. Aber das ist ohnehin nur Ouvertüre. Der Hauptakt ist Erdogan, der an der Treppe zum VIP-Gebäude stehen bleibt und seinen Triumph genießt.
Vielleicht geht ihm in diesem Moment ein anderer Auftritt am Istanbuler Flughafen durch den Kopf: Vor drei Jahren, auf dem Höhepunkt der Gezi-Proteste. Kurz nach Beginn der Proteste war er zu einer Nordafrika-Reise aufgebrochen. In seiner Abwesenheit erteilten der damalige Staatspräsident Abdullah Gül und der damalige Parlamentspräsident Bülent Arinc den Befehl, die Polizei vom umkämpften Taksim-Platz abzuziehen und wenigstens in Istanbul für Entspannung zu sorgen.
Es wäre der Moment gewesen, an dem Erdogan hätte versuchen können, die Situation zu entschärfen. Er tat es nicht. Stattdessen ging er zum Frontalangriff über, beschimpfte die Demonstranten als "Marodeure", die von "ausländischen Kräften" gesteuert würden und nannte die Proteste einen Putschversuch. Der Beginn einer inneren Eskalation, die in der Nacht zum Samstag einen neuen Höhepunkt erlebt hat.
Die Fahrt von Flughafen in die Innenstadt führt vorbei an einem verlassenen Panzer, vor dem zwei Männer Souvenirfotos schießen. Die Straßen sind leer, auch Polizei ist kaum noch zu sehen. In den sozialen Medien werden bereits die ersten Zweifel geäußert: "Was soll das für ein Putsch sein mit fünf Panzern und zwei Flugzeugen?", kaum 5 Bataillone Militär gegen offensichtlich bereitstehende Polizei-, Geheimdienst- und Gendarmerie-Einheiten in Stärken von mehreren zehntausend Mann? Dieses Land hat viele Staatsstreiche erlebt, aber so was noch nie. Die zweitgrößte Armee der NATO putscht in Brigadestärke? 4600 Mann gegen den bescheidenen Rest von mehr als 480.000 Soldaten. Angeblich ist die Luftwaffe verwickelt. Deren hochmoderne Abwehrsysteme lassen zu, dass der Präsident mitten im Putsch nach Istanbul fliegt? 2 F – 16 decken den „Putsch“ in Istanbul, der größten Stadt des Landes?
Das hier ist eine erbärmliche Inszenierung. Erdogan hatte keine Mehrheit für das Präsidialsystem. Mit seiner Ankündigung, mehr als 3 Millionen Syrer einzubürgern, hat er auch seine eigenen Anhänger verprellt. Jetzt ist er für alle Zeiten der Held. Der eigentliche Putsch beginnt jetzt erst – die Säuberungs- und Reinigungsaktionen der Geheimdienste wurden unmittelbar befohlen. Neben dem Militär wird auch die Justiz auf Linie gebracht – politisch auffällige oder unsichere Personen werden aus dem öffentlichen Leben entfernt.
Die politischen Äußerungen aus dem Ausland sind in ihrer Erbärmlichkeit bestenfalls mit Ignoranz oder nihilistischer Dummheit zu erklären.
Frá Mohiuddin BatuKhan
Ritter des Tempels
- Zwar hat die menschliche Unvernunft nicht zugenommen. Ruinös angestiegen ist jedoch die Zahl der Unvernünftigen -