Der Weg zur Weisheit? ...oder begehrliches Streben nach Wissen? © PCMTH
Einer der begabtesten Wissenschaftler des letzten Jahrhunderts schrieb, nachdem er das Ausmaß seiner wissenschaftlichen Tätigkeit in seiner ganzen Tragweite begriff, einen sehr tiefgründigen Satz: »In einem ganz elementaren Sinn des Wortes, der sich durch keine Bagatellisierung, keinen Scherz, keine Übertreibung aus der Welt schaffen lässt, haben die Naturwissenschaftler die Sünde kennen gelernt.«
Aufgrund vieler in der Öffentlichkeit und den Medien, überwiegend auf religiös fundiertem Hintergrund, kontrovers vorgetragenen Standpunkte zur Wissenschaft, welche teilweise auf einem Niveau vorgetragen werden, die schon als abartig zu bezeichnen sind, entwickelten wir hierzu ein paar grundsätzliche Gedanken - ist es nicht erschreckend, dass solche Leute, welche die von ihnen vertretene Religionsauffassung von der Wissenschaft angegriffen sehen, diese dann grundsätzlich als unwissenschaftlich oder gar unfähig bezeichnen, selbige aber dann auf fragwürdige wissenschaftliche Behauptungen von zweifelhaften Wissenschaftlern zurückgreifen, wenn es gilt ihre eigenen abwegigen Standpunkte zu vertreten.
Sind wir wirklich so tief gesunken, dass Wissenschaft nur noch zum Missbrauch für egozentrische, machtbesessene Möchtegern-Messiasse taugt? Ist der Gedanke der „freien“ Wissenschaft verloren gegangen?
Zu Newtons Zeiten war eine im Wesentlichen hermetische Einstellung zur Wirklichkeit - eine allumfassende, alles einbeziehende, einheitliche Weltanschauung - noch möglich. Doch seitdem hat sich die Welt sehr verändert. Die Welt, die wir heute bewohnen, ist eine Welt, in der, wie einmal gesagt worden ist, der Verstand »Moralsysteme entwirft, deren Grundprinzip der gesellschaftliche Nutzen ist«. Diese Welt ist das Produkt der so genannten »Aufklärung« bzw. des »Zeitalters der Vernunft«. Seit dem Triumph des cartesianischen Denkens zu Beginn des 18. Jahrhunderts hat die westliche Zivilisation die Analyse auf Kosten der Synthese, den Mechanismus auf Kosten des Organismus verherrlicht. Eine Folge davon war hemmungslose Spezialisierung und damit einhergehende Fragmentierung.
Statt eines einzigen, alles durchdringenden Erkenntnisprinzips, das der Gesamtheit des menschlichen Handelns Sinn verleiht, gibt es nun eine Vielzahl konkurrierender Prinzipien, eins mit dem anderen wetteifernd, eins mit dem anderen um die Vorherrschaft kämpfend und um unsere Gunst buhlend. Jeder dieser miteinander konkurrierenden Wissensbereiche ernennt sich selbst zu einer »Disziplin«. Und jede Disziplin bildet eine Art Kult aus, mit eigener Priesterschaft und eigener »Theologie«. Kunst, Naturwissenschaft, Psychologie, Soziologie, Geschichte, Wirtschaftswissenschaften, politische Wissenschaften und Religion, ebenso die zahlreichen und häufig divergierenden »Denominationen« innerhalb jedes Bereiches - sie alle besitzen ihre eigenen Hohepriester, die jeweils für die Verbreitung eines hochspezialisierten Dogmengebäudes eintreten. Jede Priesterschaft besitzt ihre eigenen Mysterien, die sich normalerweise hinter dem Vorhang eines verwirrenden Jargons verbergen und für alle, außer dem Eingeweihten, unzugänglich sind. Und jede dieser Priesterschaften muss, wie es bei Priesterschaften immer der Fall ist, ihre Interessen schützen, weswegen »Häretiker« exkommuniziert werden.
Für die unglückliche Menschheit aber, die nach Bedeutung, Sinn und Ziel ihres Daseins sucht, ist das Resultat bestürzend. Wir sehen uns heute einer verwirrenden Vielfalt einander widersprechender »absoluter« Aussagen gegenüber, deren jede behauptet, die gesuchten Antworten zu besitzen und auf ihre eigene individuelle Interpretation der Wirklichkeit pocht. Chemie, Biologie und Physik - und die Kombinationen dieser Wissenschaftszweige -, sie alle behaupten, die absolute Wahrheit zu kennen. In starkem Gegensatz dazu erheben die organisierten Religionen und besonders der religiöse Fundamentalismus ebenfalls ihre Stimme, genauso die Soziologie, Psychologie und politische Wissenschaft. Und dann gibt es natürlich noch die zahllosen Ismen, die in den letzten eineinhalb Jahrhunderten ins Kraut geschossen sind: Marxismus, Bolschewismus, Maoismus, Faschismus, Kapitalismus, Monetarismus und so weiter. Wie kann aber nun der einzelne, der sich diesem Lärm rivalisierender und oft einander ausschließender Ansprüche auf die alleinseligmachende Wahrheit gegenübersieht, eine vernünftige Auswahl treffen, vor allem, wenn es ihm durch die jeweilige Priesterschaft weitgehend unmöglich gemacht wird, die Gültigkeit eines Anspruchs zu prüfen, und er sich diesen Dingen in gutem Glauben nähern muss ?
Eine Folge dieser Schwierigkeit ist, dass Menschen geneigt sind, sich dem Anspruch zuzuwenden, der der »sicherste« zu sein scheint, der das wenigste Engagement erfordert und das geringste Risiko bedeutet. Leider wird ein solcher Anspruch aber auch immer der anspruchsloseste sein. Zum Beispiel sind die meisten Leute heute ohne weiteres bereit, blind zu glauben, dass sie und die sie umgebende Welt aus Molekülen bestehen und dass Moleküle aus Atomen, Atome aus Protonen, Neutronen und Elektronen aufgebaut sind, die ihrerseits wieder aus Myriaden kleinerer Teilchen bestehen. Und ohne den Begriff »Lichtjahr« wirklich zu verstehen, sind die meisten Leute ganz ähnlich bereit, guten Glaubens zu akzeptieren, dass zum Beispiel der Sirius eine bestimmte Anzahl von Lichtjahren von der Erde entfernt ist. Doch können solche unhinterfragten »Glaubensartikel« uns helfen, unser Leben zu leben, Entscheidungen zu treffen, irgendeinen Sinn, eine Bedeutung, ein Ziel für unser Dasein zu gewinnen?
Können uns solche »Glaubensartikel« helfen, den Kurs unseres Handelns zu bestimmen, oder können sie den Grund für eine Ethik, einen moralischen Imperativ, eine Wertehierarchie legen? Was dies betrifft, leben wir in einer Situation, in der die Bedingtheit der Perspektive in erkenntnistheoretische Panik übergeht.
Die frühe hermetische Philosophie war von der gegenseitigen Verbundenheit und Verknüpfung aller Dinge ausgegangen. Zog man an einem Faden im Gewebe der Wirklichkeit, so spannte man irgendwo anders einen Faden an oder trennte ihn auf. Die Kernphysiker waren, falls sie überhaupt an etwas glaubten, von der Allgemeingültigkeit dieser Voraussetzung überzeugt und übersetzten die ihr zugrunde liegende Theorie in eine nur allzu gut anwendbare Praxis. Auch fanden die Kernphysiker in den analogen Strukturen des Atoms und des Sonnensystems eine Art Bestätigung für die alte hermetische Lehre von Makrokosmos und Mikrokosmos. Damit hat die moderne Naturwissenschaft im Grunde das hermetische Prinzip der Verbundenheit aller Dinge, übernommen, ohne es natürlich beim Namen zu nennen oder seine Herkunft zu kennen. Die Vorstellung eines miteinander verknüpften Mikrokosmos und Makrokosmos mag, buchstäblich genommen, für den wissenschaftlichen Empirismus zu metaphysisch sein. Doch wird er das Prinzip der gegenseitigen Verbundenheit aller Dinge nicht in Frage stellen. Jedes Schulkind zum Beispiel lernt den Kreislauf des verdampfenden Wassers und der darauf folgenden Niederschläge oder den Kreislauf von Wachstum und Verfall. Und wenige einigermaßen informierte Menschen können heute die Augen vor der Tatsache verschließen, dass der doch so weit entfernte brasilianische Regenwald trotzdem einen Einfluss auf ihr eigenes Leben ausübt. Umweltenqueten konfrontieren uns tagtäglich mit der Notwendigkeit, unseren Planeten als lebendigen und äußerst bedrohten Organismus aufzufassen, dessen Vergewaltigung, mag sie sich auch in weiter Feme abspielen, Auswirkungen auf unser eigenes Dasein hat. Der Gedanke ist inzwischen Allgemeingut geworden, dass die Ressourcen unserer Erde nicht unerschöpflich, sondern begrenzt sind und dass wir ihrer Erschöpfung gefährlich nahe gekommen sind. Allgemeingut ist auch die Einsicht, dass winzige Handlungen Konsequenzen katastrophalen, ja apokalyptischen Ausmaßes haben können - das ist eine Anwendung des Schneeballeffektes der Chaostheorie. Eine in der Privatheit unseres Badezimmers versprühte Dose mit FCKW hat Auswirkungen auf die Ozonschicht. Ein Feuer mit Herbstblättern im Garten trägt zum Treibhauseffekt bei. Die Gifte, mit denen wir unsere Umwelt verschmutzen, kommen in der Nahrung, die wir essen, im Wasser, das wir trinken, und in der Luft, die wir atmen, zu uns zurück. Wie die Hermetiker des alten Alexandria immer betont haben, stehen wir in Wechselbeziehung zur Natur und sind ein untrennbarer Teil von ihr.
In vieler Hinsicht haben allerdings die cartesianische Methode, der rationalistische Empirismus und die wissenschaftliche Analyse unbestreitbare Triumphe gefeiert. Organtransplantationen zum Beispiel sind heutzutage schon normal, und man kann Organe wie Maschinenteile ersetzen oder schon bald gar herstellen. Insofern hat sich die Mentalität der Aufklärung rentiert und bestätigt. Nur allzu oft indessen vergessen ihre Vertreter, inwiefern sich die alternative Einstellung, die der hermetischen Integration und Synthese, ebenfalls bestätigt hat. Allzu oft verlieren sie aus dem Blick, bis zu welchem Grad sie selbst sie vertreten und von ihr abhängig sind.
Zu Beginn des letzten Jahrhunderts zum Beispiel hatten sich Biologie, Chemie und Physik zu drei separaten, autonomen Disziplinen entwickelt: jede ein Spezialgebiet, eine in sich abgeschlossene Welt. Nur allmählich und sehr zögernd wurden dann Verknüpfungen zwischen ihnen hergestellt, wodurch Forschungsbereiche wie Astrophysik, Biophysik und Biochemie entstanden. Dabei wurden diese angeblich neuen Forschungsbereiche als höchst innovativ und revolutionär gepriesen.
Und doch spiegeln sie nur wieder, was letzten Endes schon immer die Realität war - die Realität, wie sie von Männern vom Schlage eines Agrippa, Bruno und Paracelsus gesehen wurde. Sie spiegeln eine Einheit wider, die existierte, lange bevor der analytische Prozess eine künstliche Trennung zwischen ihren Konstituenten und Komponenten hervorrief. In Wirklichkeit sind Biologie, Chemie und Physik schon immer miteinander verknüpft gewesen, und die cartesianische Wissenschaft befand sich im Irrtum, als sie sie zu getrennten Sphären erklärte. In Gebieten wie der Umweltforschung entdeckt also die Wissenschaft heute wieder das hermetische Prinzip der Verknüpfung aller Dinge und findet entsprechende Bestätigungen. Auch ist die Wissenschaft zurzeit damit beschäftigt, ihre Unterteilungen zu reintegrieren und zur Synthese zu führen - was ein eigentlich hermetisches Verfahren ist. Doch weigert sie sich noch, eine ähnliche Reintegration und Synthese mit anderen Wissensbereichen vorzunehmen, anderen Gebieten schöpferischen Wirkens des Menschen, mit der Philosophie zum Beispiel, der organisierten Religion, der Psychologie oder mit den Künsten. Zu diesen Bereichen steht die Naturwissenschaft mehr oder weniger in offener oder verdeckter Opposition. Und solange diese Opposition anhält, wird das Wissen fragmentiert und fragmentarisch bleiben, wird es mehr den Charakter von Information als von Weisheit besitzen. Diese Situation spiegelt sich auch im modernen Bildungswesen wider und wird von ihm verfestigt. Im Idealfall und theoretisch soll unser Bildungssystem gewährleisten, dass die Lernenden sich mehr und mehr Wissen aneignen. Dieser Prozess sollte an der Universität seinen krönenden Abschluss finden, die, wie ja schon ihr Name sagt, Wissensinhalte und Perspektiven von »universellem« Ausmaß vermittelt und die Totalität menschlichen Wissens umfasst. In der Praxis jedoch führt unser Bildungssystem zum genauen Gegenteil. Die moderne Universität ist kaum noch »universell«, vielmehr eine Institution, die der Weitergabe von spezialisiertem Wissen dient. Das Wissen ist strengstens in Schubladen eingeteilt. Jedes Gebiet, jede Disziplin ist von allen anderen isoliert und getrennt. Dieses Schubladendasein der Wissenschaft ist ein Erbe und eine Widerspiegelung der cartesianischen Wissenschaft und des rationalistischen Empirismus.
Die Naturwissenschaft hat wenig Interesse daran, Verbindung mit anderen Arten des Wissens aufzunehmen, und ebenso wenig Interesse daran, Verbindung mit etwas noch Wichtigerem herzustellen: mit ethischen Zusammenhängen, mit einem Sinn für moralische Verantwortung und einer Wertehierarchie. Natürlich gibt es Ausnahmen: Einstein zum Beispiel. Und da die Wissenschaft heute mehr und mehr auf Neuland vordringt, werden sich immer mehr Naturwissenschaftler der Notwendigkeit bewusst, sich selbst moralische Schranken zu setzen und einer Art moralischem Imperativ zu folgen. Doch im Großen und Ganzen würden sie in ihrer Mehrzahl mit Wernher von Braun und dessen Feststellung einig gehen, dass Wissenschaft »an sich keine moralische Dimension« besitzt und dass selbst die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen »ethisch neutral« ist. So wird es möglich, dass etwa ein angesehener Professor, berühmter Pionier der Embryoforschung und prominentes Mitglied der Royal Society, über die ethischen Implikationen der Gentechnologie schreibt: »Das ist kein Thema für den Wissenschaftler - nur für die Öffentlichkeit [...] Selbst im Hinblick auf die Implantation von Genen in menschliche Zellen ist es nicht Aufgabe des Wissenschaftlers oder Arztes, darüber zu entscheiden, ob solche Verfahren klug oder tunlich sind.«
Dieser Professor schien fast erstaunt darüber zu sein, dass seine Einstellung ethische Bedenken hervorrufen könnte, wenn er schließlich die Frage aufwirft: »Was wäre [...] denn so schlimm an einer >Supermarkt<-Lösung, bei der Gene zu einem bestimmten Preis und mit entsprechenden Hinweisen über mögliche Nebeneffekte versehen, angeboten würden? «Und während sich der Professor verteidigt, liefert er eine außergewöhnlich moderne Neuformulierung der alten cartesianischen Methodik, indem er jede Synthese verdammt und nur der Analyse das Wort redet: »Jede in ihrem Kern holistische Philosophie muss notwendig auf Antiwissenschaft hinauslaufen, da sie ausschließt, dass Teile eines Systems für sich untersucht werden - dass Teile isoliert und in ihrem Verhalten ohne Bezug auf alles übrige erforscht werden.« Das ist genau die Stimme des zeitgenössischen Faust. Es ist nicht die Stimme des Faust der Renaissance, der lediglich - und zu Recht – die engen Vorschriften und Inhalte der strengen jüdisch-christlichen Moral in Frage stellte. Es ist vielmehr die Stimme des für das 21. Jahrhundert typischen Faust, der in seinem Streben nach Wissen statt nach Weisheit die Grundwerte menschlicher Existenz leugnet.
Zumindest einige Wissenschaftler sind sich des faustischen Charakters ihrer Bestrebungen durchaus bewusst. Einige von ihnen verglichen sich ausdrücklich mit Faust und Prometheus und waren davon überzeugt, sie seien einem kosmischen Mysterium auf der Spur. Mehr als einer von ihnen berichtete, er habe sich gefragt, ob ihre Arbeiten nicht vielleicht die Grundstrukturen der Schöpfung zerstören und sie unmittelbar vors Angesicht Gottes bringen könnten - und wäre es auch nur ein Gott in Form reiner Energie.
Auf der einen Seite findet sich der positive Typus des Wissenschaftlers: der Hohepriester mit heilenden Kräften, Wächter über erhabene Mysterien, dem Fortschritt dienend, die Welt revolutionierend, das menschliche Leben verbessernd und fähig, Arzneien für jedes Übel zu finden. Und auf der anderen Seite der negative Typus: der uns allen vertraute exzentrisch verbohrte Fachidiot oder das gewissenlose bis wahnsinnige und in der Regel verkannte Pseudo-Genie welches vielleicht schon für etwas Anerkennung oder Öffentlichkeit, meist aber wie eine Hure gegen gute Bezahlung, bereit ist die ganze Zunft zu verraten und in Frage zu stellen. All diese Gestalten sind, ob kreativ oder destruktiv, eigentliche Magier-Gestalten. Sie verkörpern für viele den Magier unserer Zeit, sie sind eine der Verkleidungen, in denen Faust weiterlebt und weiterwirkt. Alle stützen sich auf die Grundvoraussetzung der hermetischen Magie: Sie nutzen das Prinzip der gegenseitigen Verbundenheit aller Dinge, um »Dinge geschehen zu lassen«.
Sollten wir wirklich alles einfach geschehen lassen!
Auszug aus dem Buch <Der Weg zur Weisheit? Kap. 3 …oder begehrliches Streben nach Wissen? >, Rodrigo de Beaujeu © 2001 PCMTH
Frá Arnau de Rubens Figueroa
Komtur des Tempels
- Zwar hat die menschliche Unvernunft nicht zugenommen. Ruinös angestiegen ist jedoch die Zahl der Unvernünftigen -
Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal bearbeitet, zuletzt von »
- admin -« (19.05.2012, 10:44)